Was ist das Montessori-Phänomen?
Die Polarisation der Aufmerksamkeit ist ein Bewusstseinsphänomen, das beobachtet werden kann, wenn ein Kind selbstbestimmt eine freigewählte Tätigkeit konzentriert ausführt. Dieser besondere Prozess einer konzentrierten Tätigkeit mit einem freigewählten Beschäftigungsmaterial ist in die Geschichte der Pädagogik mit dem Begriff „Montessori-Phänomen“ eingegangen. Sie verbindet Kind und Sache, ermöglicht Fähigkeiten, Wissen, Können und hebt sie ins Bewusstsein. Sie erfasst und verändert die gesamte Persönlichkeit in Richtung innere Ordnung, Kompetenz, Handlungsfähigkeit und Unabhängigkeit.
Montessoris Entdeckung
Erstmals nahm Maria Montessori dieses Phänomen 1907 in ihrem ersten Kinderhaus bei einem dreijährigen Mädchen wahr, welches tiefversunken fortwährend eine Übung mit Einsatzzylindern wiederholte und sich durch nichts in ihrer Umgebung von dieser Tätigkeit ablenken ließ.
Auszug aus Montessoris Werk '(Montessori, Schule des Kindes. (1976)'
Entgegen der Ansicht, dass Kinder sich leicht ablenken und nur kurz auf eine Beschäftigung konzentrieren können, wurde erkennbar, dass sich auch sehr junge Kinder intensiv mit einer Sache über einen längeren Zeitraum aufmerksam beschäftigen können. Montessori schilderte die Entdeckung des Phänomens als den Schlüssel ihrer Pädagogik. Dieses Erlebnis machte Maria Montessori deutlich, dass diese Konzentration inneren Ursprungs und immer dann beobachtbar ist, wenn ein Mensch sich aus seinem innersten Interesse heraus einer Sache hingibt.
Die Bedeutung dieses Phänomens in anderen pädagogischen Konzepten und psychologischen Theorien
Der berühmte Schweizer Pädagoge Abraham Maslow benannte die „peak experience (Gipfelerfahrung)“ und bemerkte: „Wenn es eine S-Erkenntnis (Erkenntnis des Seins) gibt, muss man dem wahrgenommenen Gegenstand ausschließlich und voll seine Aufmerksamkeit widmen. Das kann man ‚totale Aufmerksamkeit‘ nennen.“ (Maslow, 1973, S. 86).
In der Neuropsychologie wird der sogenannte Orientierungsreflex beschrieben, bei dem sich das Individuum dem Reiz intensiv zuwendet.
Der Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi ist Schöpfer der ‚Flow-Theorie‚. In dieser wird das Phänomen als das beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit, die wie von selbst vor sich geht, bezeichnet.
Der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi sprach von einer „Sternstunde der Pädagogik“.
Wie kann man die PdA auslösen?
Ausglöst wird die PdA durch den Reiz an einer bestimmten Sache, doch reicht das nicht aus, um eine konzentrierte Beschäftigung mit dieser bestimmten Sache hervorzurufen. Auf den äußeren Impuls muss noch eine innere Antwort erfolgen. Nur wenn eine Übereinstimmung zwischen sinnlichem Reiz und geistigem Interesse ausgelöst wird, kann eine PdA entstehen. Dieses Bewusstseinsphänomen ist nicht Voraussetzung, sondern Resultat einer intensiven Beschäftigung mit einem, der sensiblen Phase des Kindes entsprechendem, Material.
Was sensible Phasen sind, habe ich anhand des Bereichs Sprachentwicklung unter folgendem Artikel näher beschrieben:
Welche pädagogischen Konsequenzen sind notwendig?
Damit ein Kind sich so konzentriert mit einem Material beschäftigen kann, sind folgende Bedingungen notwendig:
- genügend entwicklungs- und bedürfnisgerechte Aufgaben bzw. Material, um den geistigen Hunger des Kindes zu stillen.
- genügend Zeit, damit das Kind ungestört seinem Tätigkeitsdrang nachgehen kann.
- genügend Freiheit, um die Übung selbstbestimmt auszuführen bis das innere Bedürfnis gesättigt ist.
Das Auslösen der PdA ist nur in einer gut vorbereiteten Umgebung möglich!
Die PdA verläuft in 3 Stufen
Die erste Phase nennt Montessori „Anlauf zu Arbeit“. Es ist die Zeitspanne des Suchens und der inneren Unruhe. Das Kind ist diffus interessiert, sucht und wählt unter verschiedenen Gegenständen, ohne dass eine intensive Beschäftigung mit dem Material einsetzt. Schließlich erwächst aus dem allgemeinen Interesse der entscheidende Impuls, sich mit einem ganz bestimmten Material zu befassen.
In dieser Phase findet die intensive und hochkonzentrierte Beschäftigung mit dem Material statt. Wenn das Kind anfängt, sich auf das ausgewählte Material zu konzentrieren, beginnt ein Aktivitätszyklus, in den der Pädagoge nicht mehr eingreifen darf.
Zu diesem Zyklus gehören:
– Die Intention der Wiederholung von Übungen bis zum Sättigungsgrad
– Der Wunsch, evtl. auftretende Schwierigkeiten zu überwinden.
Für eine längere Zeitspanne arbeitet das Kind intensiv und ausdauernd in innerer Versenkung und äußerer Isolation.
Die letzte Phase bezeichnet Montessori als Periode besinnlicher Verarbeitung erworbener Eindrücke. Das Kind arbeitet nicht mehr. Es begutachtet seine Arbeit lange und ohne zu reden. In seinem Inneren klären sich die Dinge und es kommt so in eine freudige, euphorische Stimmung.
Montessori nennt die wichtige Schlussphase auch „gedankenvolles Ausruhen“, „sinnende Periode“ oder „innere Sammlungsarbeit“.
Veranschaulichende Grafik
… die Zufriedenheit und Ausgeglichenheit
… die Konzentrations-, Merk- und Handlungsfähigkeit
… die Motorik
… das Sach-, Selbst- und Sozialbewusstsein
… die Ordnung, Ausdauer und Disziplin
… den Willen und die Einsicht in die Richtigkeit
… das Transfer- und Lernvermögen
… den Besitzsinn (Sein/Haben)
… die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit
… die Neugier und den Erkundungsdrang
… das Interesse an den Dingen der Umgebung/der Umwelt
… die Freude am Tun
Fazit
Hauptprobleme unserer Kinder heute beim Lernen sind mangelnde Konzentrationsfähigkit und fehlende Ausdauer. Das macht die Erkenntnis über die PdA und wie man diese Auslösen kann umso wichtiger.
Meine Buchempfehlung:
In dem Werk „Grundgedanken der Montessori-Pädagogik“ hat Maria Montessori dieses Phänomen näher beschrieben: