Um das Thema “Mehrsprachige Erziehung” ranken viele Legenden und auch ich werde diesbezüglich immer wieder darauf angesprochen. Aussagen wie: “Es ist normal, dass bilinguale Kinder erst später mit dem Sprechen beginnen.“ oder “Sprachverzögerte Kinder sollten nicht mehrsprachig erzogen werden.” höre ich immer wieder.
Mehr zu diesem Thema erfahrt ihr hier in dem Gastbeitrag von der Coachin und Referentin für frühkindliche Mehrsprachigkeit Dr. Adeline Hurmaci.
Viel Spaß beim Lesen
Marion
Was gehört dazu und was sind Anzeichen von Schwierigkeiten?
Viele Mythen kursieren heutzutage noch in Bezug auf die frühkindliche Mehrsprachigkeit bzw. den doppelten Erstspracherwerb. Dies hat manchmal schwere Folgen, gerade für Kinder, bei denen Schwierigkeiten im Spracherwerbauftreten. Denn diese werden oft nicht rechtzeitig erkannt und somit nicht rechtzeitigbehandelt. Mit diesem Beitrag möchte ich darüber aufklären, was Hinweise aufSchwierigkeiten bzw. sogar eine mögliche Sprachentwicklungsstörung (SES) immehrsprachigen Kontext sind, was die Ursachen und die Folgen sein können undvor allem, was ihr als Eltern tun könnt bzw. solltet. Eins möchte ich schon vorabmitteilen: Eine SES ist kein Grund, einem Kind eine Sprache wegzunehmen.
Von Anfang an mehrsprachig: Was das für den Spracherwerb bedeutet
Kinder können eine oder mehrere Sprachen auf eine ähnliche Weise erlernen. Entscheidend ist dabei weniger wie viele Sprachen es sind, als die Rahmenbedingungen, unter denen das Kind mit den Sprachen in Berührung kommt.
Eine der zentralen Rahmenbedingungen ist das Alter des Kindes. Startet der Erwerbsprozess innerhalb der ersten drei Lebensjahre (sowie es beim doppelten Erstspracherwerb der Fall ist), so finden die Entwicklungsprozesse in allen betreffenden Sprachen ungefähr gleichzeitig statt. Individuelle Unterschiede sind dabei normal. Es gibt auch immer Phasen, in denen das Kind die eine oder andere Sprache mehr fokussiert.
Die meisten mehrsprachig aufwachsenden Kinder entwickeln in der einen Sprache eine stärkere Kompetenz als in der anderen. Sie brauchen dann länger, um in ihrer schwächeren Sprache, die Satzlehre zu beherrschen oder einen gewissen Wortschatz aufzubauen.
Außerdem kann die Sprachkombination bei der Sprachentwicklung eine wesentliche Rolle spielen: Ähneln zwei Sprachen einander sehr (wie z.B. Französisch und Spanisch oder Deutsch und Holländisch), so kann das für den Wortschatzerwerb sehr vorteilhaft sein, aber wiederum die Trennung der beiden Sprachen erschweren.
Noch dazu verläuft der Erwerb von Sprachkomponenten nicht in jeder Sprache gleich. In manchen Sprachen werden bestimmte Komponenten (wie z.B. die Aussprache oder die Grammatik) früher erworben, als in anderen. Vergleiche also nicht den Entwicklungsverlauf von einer Sprache zur anderen. Jedes Kind hat auch sein eigenes Tempo. Nichtsdestotrotz sollte auf gewisse Sachen geachtet werden.
Was ist normal, was ist auffällig?
Ein später Sprechbeginn kann auf Schwierigkeiten hinweisen
Anders als oft noch behauptet wird, fangen mehrsprachig aufwachsende Kinder nicht später mit dem Sprechen an. Zwar kann die Mehrsprachigkeit dazu führen, dass ein Kind, im Vergleich zu monolingualen Kindern, bestimmte Sprachkomponente schneller oder langsamer erwirbt, aber die Mehrsprachigkeit an sich kann nicht der Grund für einen verspäteten Sprechbeginn sein. Ursachen dafür liegen woanders, wie z.B. im auditiven Bereich. Ein wichtiger Grenzstein ist die 50-Wörter-Marke mit zwei Jahren: Wenn ein Kind in dem Alter nicht oder nur sehr wenige Wörter spricht, sollte dies unbedingt mit einer Fachperson besprochen werden.
Mischen gehört zum Erwerbsprozess dazu
Schon sehr früh kann ein Kind Sprachsysteme unbewusst unterscheiden. Mit etwa zwei Jahren wird sich das Kind dessen bewusst und ist schon in der Lage, die Sprache an den Gesprächspartner anzupassen. Es dauert allerdings noch eine gewisse Zeit bis es lernt, beide Sprachen wirklich aktiv voneinander zu trennen. Die meisten mehrsprachig aufwachsenden Kinder mischen ihre Sprachen eine Zeit lang. Meistens nimmt dies im Alter von vier Jahren deutlich ab – wenn sie bereits einen guten Wortschatz in beiden Sprachen erreicht haben.
Was ist eine Sprachentwicklungsstörung?
Was ist eine Sprachentwicklungs-störung?
Marion Schmitz geht in ihrem Beitrag: “Ursachen für eine Störung in der Sprachentwicklung” intensiv auf das Thema ein.
Hier ist es mir besonders wichtig zu betonen, dass weder die Mehrsprachigkeit, noch Eltern an einer SES schuld sein können.
Diagnose bei mehrsprachigen Kindern
Mehrsprachige Kinder bekommen leider oft deutlich später Zugang zur Therapie. Dies liegt daran, dass falsche Annahmen vorliegen. Das Risiko einer Fehldiagnose ist besonders hoch [1]: Die SES kann entweder übersehen werden (denn es wird z.B. angenommen, dass ein späterer Sprechbeginn oder ein sehr geringer Wortschatz in der einen Sprache normal wäre) oder Probleme werden überschätzt und eine SES wird diagnostiziert, obwohl keine vorliegt (z.B. wenn das Kind nur über unzureichende Kenntnisse in der Bildungssprache verfügt). Bei mehrsprachigen Kindern ist es sehr wichtig, Verfahren anzuwenden, in denen eine ganze Reihe an Aspekten und alle Sprachen berücksichtigt werden.
Was tun und nicht tun?
Sobald euch etwas auffällt solltet ihr dies mit eurem Kinderarzt besprechen. Ihr Eltern kennt euer Kind am Besten. Lasst es abklären und sagt eurem Kinderarzt eindrücklich, dass Probleme nicht nur in der einen Sprache vorhanden sind, sondern in allen. Zögert auch nicht, euch eine zweite Meinung von einer anderen Fachperson (wie Logopäden z.B.:) zu holen und Diagnose-Verfahren in Frage zu stellen.
Bei einem mehrsprachigen Kind ist außerdem wichtig, eine Fachperson aufzusuchen, die über eine gute interkulturelle Kompetenz verfügt und gegenüber der Mehrsprachigkeit offen ist. Wenn diese Person, die andere Sprache noch dazu beherrscht, dann ist es ideal – aber es ist nicht notwendig, damit eine Therapie wirkt.
Die Mehrsprachigkeit überfordert dein Kind nicht, die Mehrsprachigkeit erschwert den Spracherwerb nicht, auch nicht, wenn eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt. Eine Sprache wegzulassen würde „weder förderlich noch kurativ (Scharff Rethfeldt 2013)” [3] wirken. Euer Kind darf also trotz SES mehrsprachig aufwachsen, ihr dürft euch für die Mehrsprachigkeit einsetzen!
Fazit
Wie wir in diesem Beitrag gesehen haben bedeutet mehrsprachig aufzuwachsen keineswegs, dass der Spracherwerb erschwert wird. Mehrsprachig aufwachsende Kinder erwerben Sprache auf eine ähnliche Art und Weise wie einsprachige Kinder, nur mit gewissen Besonderheiten. Wichtig ist, bei Auffälligkeiten bzw. auftretende Schwierigkeiten nach fachlichem Rat zu suchen und sich in Bezug auf die Mehrsprachigkeit nicht verunsichern zu lassen.
Dr. Adeline Hurmaci
Coach für frühkindliche Mehrsprachigkeit
www.herzenssprachen.de
Quellen:
[1] Scharff Rethfeldt, Wiebke (2017): „Sprachentwicklungsstörungen bei
Mehrsprachigkeit", in: Grohnfeldt, Manfred: Kompendium der akademischen
Sprachtherapie und Logopädie, Band 3: Sprachentwicklungsstörungen,
Redeflussstörungen, Rhinophonien, S.170-191: 176.
[2] ebd. S. 179
[3] ebd. S. 175.